Das
Glaubensleben hat mit dem weltlichen Alltagsleben eines gemeinsam: Alles, was
man lernt, will umgesetzt werden, sonst macht alle Mühe keinen Sinn. Bibelleen
und Kirche besuchen – alles vergebene Mühe, wenn man das Gelesene oder Gehörte
nicht umsetzt. So ist es auch mit der Mystik, dem einzig wahren Glaubensweg.
Wie schon erwäht, hat ein Mystiker, dessen Name nicht bekannt ist, im 14.
Jahrhundert den folgenden Text geschrieben und gilt heute noch als die beste
und einfachste Basis zum Einstieg in die Mystik. Die Schrift „Die Wolke des
Nichtwissens“ mit dem „Brief persönlicher Führung“ stelle ich in 4 Teilen zur
Verfügung. Hier der 3. Teil:
Verstehen nur aus Erfahrung
Vielleicht
beschäftigte sich dein unersättlicher Verstand und deine Vorstellungskraft mit
dem, was ich bisher über die kontemplative Übung sagte. Sie sind beunruhigt,
weil es über ihre Fassungskraft geht. Sie haben dich unsicher und mißtrauisch
gemacht bezüglich dieses Weges zu Gott. Darüber brauchst du dich nicht wundern.
In der Vergangenheit warst du so von deinem Denken und deinen Sinnen abhängig,
daß du sie jetzt nicht ganz übergehen kannst, obgleich die kontemplative Liebe
dies verlangt. Du bist bedrückt, wie ich sehe, und dem allen unsicher
gegenüber. Ist es wirklich Gott so wohlgefällig, wie ich behaupte? Und wenn,
warum? Ich will auf alles antworten; doch sei dir klar, diese Fragen stellt
dein neugieriger Verstand. Er gibt keine Ruhe und
willigt in diese Übung erst ein, wenn seine Neugier einigermaßen durch eine
gedankliche Erklärung befriedigt ist. Deshalb will ich es dir weiter erklären
und deinem stolzen Verstand entgegenkommen, indem ich auf deine gegenwärtige
Verstehensebene heruntersteige, damit du fähig wirst, mir anschließend auf
meine Verständnisebene zu folgen, mir traust und dich ohne Vorbehalt von mir
führen läßt. Ich berufe mich auf den hl. Bernhard, der sagt: „Vollendete
Folgsamkeit kennt keine Grenzen.“
Zögerst du,
dem Rat deines geistlichen Vaters zu folgen, ehe dein eigenes Urteil ihn
gutgeheißen hat, dann setzt du deiner Folgsamkeit Grenzen. Ich möchte jedoch
zunächst dein Vertrauen gewinnen. Einzig Liebe bewegt mich, nicht persönliches
Können noch großes Wissen oder tiefe Einsicht. Auch bilde ich mir nicht ein, in
der Übung kontemplativer Hingabe ein großer Meister zu sein. Ich hoffe, mich
nicht zu täuschen, und bitte Gott, mich da zu unterstützen, wo ich fehl gehe.
Mein eigenes Wissen ist Stückwerk, das seinige ist vollkommen.
So preise
ich also die Vorzüge dieser Übung, um deinen wißbegierigen Verstand
zufriedenzustellen. Könnte ein in Kontemplation Lebender ausdrücken, was er
erfährt, alle Gelehrten der Christenheit würden vor seiner Weisheit verstummen.
Alles menschliche Wissen erschiene im Vergleich dazu als reines Nichtwissen. Halte dich also nicht darüber auf, wenn mir die Sprachkraft fehlt, den Reichtum
dieses Lebens im innersten Innern auch nur annähernd zu beschreiben. Gott
bewahre uns davor, daß die kontemplative Erfahrung so oberflächlich werde, daß
man mit menschlicher Sprache sie beschreiben kann. Das ist unmöglich und wird
niemals möglich sein. Gott verhüte, daß ich das jemals versuchen wollte.
Verwechsle also nicht die kontemplative Übung der Versunkenheit mit den Worten,
die wir darüber machen. Was sie ist, können wir nicht sagen, darum versuchen
wir, sie zu umschreiben. Das verwirrt jeden stolzen Intellekt, besonders den
deinen, für den ich ja schreibe.
Zunächst
eine Frage: Was ist das Wesen höchster menschlicher Vollendung, und was
erwächst daraus? Ich will für dich antworten. Die höchste menschliche
Vollendung ist die Vereinigung mit Gott kraft einer Liebe, die sich völlig
hingibt. Diese hohe und edle Berufung ist dem Denken so fern, daß das, was sie
wirklich ist, weder vorgestellt noch gedacht werden kann. Doch wo immer wir
ihre Früchte finden, können wir sicher annehmen, daß sie dort lebendig ist.
Wollen wir also die Kontemplation als höchste Lebensform darstellen, müssen wir
zunächst die Früchte unterscheiden, die aus der höchsten menschlichen
Vollendung erwachsen.
Diese
Früchte sind die Tugenden, die in jedem vollendeten Menschen vorhanden sein
müssen. Bedenkst du das Wesen der Kontemplation genau und überlegst dir, worin
jede einzelne Tugend besteht und wie sie sich äußert, so wirst du feststellen:
In der Kontemplation sind alle Tugenden insgesamt enthalten, frei von
Selbstsucht und Nebenabsichten.
Ich brauche
jetzt auf keine einzelne Tugend näher einzugehen. Du hast darüber genug in
meinen anderen Büchern gelesen. Hier genügt es zu betonen, daß echte
Kontemplation ehrfürchtige Liebe ist, eine reife Frucht des menschlichen
Herzens. Darüber schrieb ich dir bereits in meinem kurzen Brief über das Gebet.
Dort sagte ich: Kontemplation bedeutet die „Wolke des Nichtwissens“, die
verborgene Liebe eines ungeteilten Herzens, der hl. Schrein des Bundes. Es ist
dies die mystische Theologie des Dionysius, die er „seine Weisheit“, seinen
„Schatz“, seine „leuchtende Dunkelheit“ und sein „nicht-erkennendes Erkennen“
nennt. Das führt dich in die Stille jenseits aller Gedanken und Worte und macht
dein Gebet einfach und kurz. Und diese Theologie lehrt dich, allen Schein
der Welt zu verlassen und abzuweisen.
Ja, noch
mehr: Sie lehrt dich, dein wahres Selbst zu verleugnen, wie es das Evangelium
verlangt: „Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf
sich und folge mir
nach.“ Im Zusammenhang mit allem, was wir über Kontemplation gesagt haben, ist es, als
ob Christus sagen würde: Wer mir nachfolgen will - nicht wer mit mir, sondern
hinter mir geht - zu den Freuden der Ewigkeit oder auf den Berg der Vollendung.
Christus ging uns voraus; das war seine natürliche Bestimmung. Wir folgen ihm
kraft der Gnade. Seine göttliche Natur hat einen höheren Rang als die Gnade und
die Gnade wiederum einen höheren als unsere menschliche Natur. Mit diesen
Worten sagt er uns: Wir sollen ihm auf den Gipfel der Vollendung folgen, wie
sie in der Kontemplation erfahren wird. Allerdings muß er uns zuerst rufen und
uns mit seiner Gnade dorthin führen.
Es ist eine
unumstößliche Wahrheit. Dir und allen, denen es ähnlich ergeht und die diese
Zeilen lesen, möchte ich ganz klar sagen: Ich habe dich zwar ermutigt, den Weg
der Kontemplation schlicht und vertrauensvoll zu betreten. Doch bin ich mir
darüber klar, daß in der Kontemplation Gott unabhängig von allen Methoden der
entscheidend Wirkende sein muß. Er muß mit seiner Gnade dieses Geschehen in dir
lebendig halten. Du und andere, denen es ebenso geht, müsst euch ganz und gar
auf Empfangen einstellen, einem Wirken in der Tiefe eures Herzens zustimmen und
es durchleiden. Deine passive Zustimmung und dein Zulassen sind in
Wirklichkeit jedoch eine echte Aktivität. Du hältst ihm ja dein ganzes
Verlangen entgegen und öffnest dich selbst unaufhörlich seinem Wirken. Doch
wirst du das alles selber durch Erfahrung und Einsicht in geistige Wirklichkeit
lernen. In seiner Güte berührt Gott jeden Menschen auf seine Weise, den einen
direkt, den anderen indirekt. Wer wagt da zu sagen, er spräche dich und andere
nicht durch dieses Buch an? Ich verdiene es zwar nicht, sein Diener zu sein,
doch wenn er in seiner verborgenen Absicht es so will, kann er durch mich
wirken. Er ist frei und kann tun, was ihm beliebt.
Ich glaube
nicht, daß du das alles verstehst, bis deine Erfahrung es dir in der
Kontemplation bestätigt. So sage ich dir nur: Halte dich bereit für Gottes
Geschenk, indem du auf seine Worte achtest und ihren vollen Sinn erfaßt:
„Jeder, der mir nachfolgen will, verleugne sich selbst.” Sage mir: Gibt es
einen besseren Weg, sich und die Welt zu verleugnen und zu verachten, als sich
zu weigern, sich mit ihr und allem, was dazu gehört, zu beschäftigen?
Der Kern menschlichen Seins: Gottes Sein
Zu Anfang
sagte ich: Vergiß alles und blick nur in das Dunkel deines nackten Seins. Meine
Absicht war jedoch, dich zu dem Punkt zu führen, wo du auch dieses noch
aufgibst, um nur noch das Sein Gottes zu erfahren. Diese allertiefste Erfahrung
hatte ich im Auge, als ich dir anfangs sagte: Gott ist dein Sein. Es war damals
noch zu früh, von dir zu erwarten, daß du ohne Übergang in diese hohe Schau des
Seins Gottes eintreten würdest. So habe ich dich Stufe um Stufe weitergeführt.
Zunächst riet ich dir, in der unverdeckten, bildlosen Schau deines Seins zu
ruhen, bis dir durch ausdauerndes geistiges Bemühen die Übung der Versunkenheit
leichtfällt. Ich wußte, sie würde dich für das innerste Erkennen des göttlichen
Seins vorbereiten. Das Wichtigste dieser Übung war, daß in dir eine alles
umfassende Sehnsucht wuchs, ein Verlangen, nur Gott zu erkennen und sonst
nichts. Ich sagte zwar anfangs: Hülle die Wahrnehmung Gottes ein mit der
Wahrnehmung deines eigenen Seins! Du warst eben damals noch geistig ungeübt und
unentwickelt. Ich hoffte, es würde dir durch geduldiges Üben zunehmend leichter
fallen, bis du schließlich fähig wärest, dein Bewußtsein selbst von der
elementaren Wahrnehmung deines eigenen Seins frei zumachen und dann in einer
dir bisher völlig unbekannten Weise zu erfahren, wie Gott, so wie er in sich
ist, dich voll Liebe umfängt.
Das ist der
Weg jeder echten Liebe. Der Liebende will alles für seine Geliebte geben, sogar
sein eigenes Selbst. Er kann an nichts mehr denken als an seine Geliebte. Eine vorübergehende Schwärmerei? Nein, wahre Liebe sucht immer unmittelbar sich
völlig selbst zu vergessen. So ist Liebe. Das versteht nur, wer sie kennt.
Unser Herr meint das gleiche, wenn er sagt: „Jeder, der mich liebt, verleugne
sich selbst.“ Er will sagen: Wer wirklich von meiner Liebe umkleidet werden
möchte, muß sein Selbst ausziehen; denn ich bin das kostbare Kleid ewiger, nie
endender Liebe.
Das Selbst-Vergessen
Falls du
beim Üben merkst, daß du noch nicht Gott, sondern erst dein eigenes Selbst wahrnimmst
und erfährst, verlange mit der ganzen Kraft deines Herzens danach, einzig in
Gottes Sein zu versinken und daß dir nichts übrigbleibe als der tiefe Wunsch,
die kärgliche Erkenntnis und die den Grund verstellende Wahrnehmung deines
eigenen dunklen Seins zu vergessen. Meide dein Selbst wie Gift. Vergesse und
übersehe es so entschieden, wie unser Herr es erwartet.
Verstehe
mich recht: Ich sagte nicht, wünsche dir nicht-zu-sein. Das wäre Torheit und
hieße Gott lästern. Vielmehr verlange danach, jedes Bewußtsein und jede
Wahrnehmung deiner selbst zu verlieren. Das ist wesentlich, wenn du Gottes
Liebe in der Fülle erleben willst, wie es in diesem Leben überhaupt möglich
ist. Dir muß es selbst aufgehen, daß du ohne Hergabe deines Selbst nie dein
Ziel erreichen wirst. Wo immer du bist, was du auch tust und wie du es
versuchen wirst, die elementare Wahrnehmung deines nackten Seins steht zwischen
dir und deinem Gott. Natürlich mag Gott gelegentlich eingreifen und dich mit
einer flüchtigen Erfahrung seines Seins beglücken. Von diesen Augenblicken
jedoch abgesehen, wird die dunkle Wahrnehmung deines eigenen nackten Seins dein
Bewußtsein erfüllen und wie eine Mauer stehen zwischen dir und Gott. Ähnlich
war es zu Beginn dieser Übung, als die Aufmerksamkeit auf Einzelheiten deines
Seins wie eine Mauer stand vor der direkten Wahrnehmung deines Seins. Bald
wirst du spüren, welch schwere und schmerzhafte Last dein eigenes Selbst ist.
Möge dir Jesus in jener Stunde helfen, du wirst ihn dringend brauchen.
Alle Last
und alles Leid der Welt zusammen scheinen gering im Vergleich dazu; dann wirst
du dir selbst das Kreuz sein. Aber das ist der Weg zu unserem Herrn und dies
der tiefe Gehalt seiner Worte: „Er nehme sein Kreuz auf sich“ - das
schmerzhafte Kreuz des eigenen Selbst, damit er mir später „in die Herrlichkeit
folgen kann“ oder zum „Gipfel der Vollendung“. Höre, was er verspricht:„Dort
werde ich ihn in der unaussprechlichen Erfahrung eines göttlichen Lebens die
Wonnen meiner Liebe kosten lassen.“
Du siehst
also, es ist notwendig das schmerzhafte Kreuz des eigenen Selbst zu tragen.
Dies allein wird dich vorbereiten auf die alles übersteigende Erfahrung Gottes,
wie er ist, und auf die Vereinigung mit ihm in verzehrender Liebe. Mögest du
jetzt, da diese Gnade dich anrührt und ruft, immer mehr den alles überragenden
Rang kontemplativen Lebens erkennen und schätzen.
Das wahre Selbst - Unterschied von Sein und
Handeln
Glaubst du
immer noch, deine Sinne und dein Verstand könnten dir helfen, zur Kontemplation
zu gelangen? Sie sind dir keine Hilfe. Bildreiche und gedankentiefe
Betrachtungen werden dich nie zur
Kontemplation führen, auch wenn sie außergewöhnlich klar, bereichernd und tief
sind. Mögen sie sich mit deiner sündigen Vergangenheit beschäftigen, mit dem
Leiden Jesu, den Freuden Marias, der Engel und Heiligen oder sich mit Gottes
Eigenschaften befassen oder den deinigen, mit den Unterschieden und dem Wesen
deines Seins oder des Seins Gottes: Zum kontemplativen Gebet nützen sie dir
nichts. Darum suche ich selbst nichts anderes als die direkte dunkle
Wahrnehmung meines Selbst, worüber ich ja schon gesprochen habe. Ich sagte „die
Wahrnehmung meines Selbst” und nicht „meines Tuns“. Viele verwechseln nämlich
ihr Tun mit sich selbst und glauben, dies sei identisch. Das stimmt nicht. Das
Handeln ist etwas anderes als das Sein. Ähnlich ist es mit Gott. Sein Wesen ist
etwas anderes als seine Werke.
Doch kommen
wir zurück. Das einzige, wonach ich verlange, ist die einfache Wahrnehmung
meines Selbst, obwohl sie mich mein Selbst als schmerzliche Last erleben läßt
und mich unsagbar traurig macht, eben weil ich nur mein Selbst und nicht Gott
erfahre. Diese Schmerzen jedoch ziehe ich selbst den klarsten und tiefsten
Gedanken vor, die jemand äußert oder die man in Büchern findet (mögen sie auch
immer für deinen klugen und verständigen Kopf hoch und beglückend erscheinen).
Ich aber ziehe das Leid vor, das in mir das Liebesverlangen entzündet, Gott zu
erfahren, wie er wirklich ist.
Trotzdem
sind anregende Gedanken nicht fehl am Platz, sie haben ihren Wert. Wer gerade
erst zu Gott zurückgefunden hat und mit dem Besten beginnt, findet in ihnen
einen sicheren Weg zur geistigen Wahrnehmung seiner selbst und Gottes.
Allerdings dürfte es, menschlich gesprochen, unmöglich sein, daß ein Sünder ohne
besonderes Eingreifen Gottes zu friedvoller Ruhe in der inneren Wahrnehmung
seiner selbst und des Seins Gottes gelangt, bevor er nicht seine
Vorstellungskraft und sein Denken geschult hat in der Erkenntnis seiner eigenen
menschlichen Fähigkeiten und der vielfältigen Werke Gottes. Auch muß er zuvor
seine Sünden bereuen und am Guten Freude finden. Glaube mir: Wer nicht
diesen Weg einschlägt, läuft in die Irre. Er muß außerhalb der Kontemplation
bleiben, ziellos mit diskursiven Betrachtungen beschäftigt, obgleich er in die
kontemplative Ruhe gelangen möchte, die sich danach auftut. Viele täuschen sich
und meinen, die geistige Tür schon durchschritten zu haben, stehen aber
tatsächlich noch draußen. Sie werden auch so lange davor bleiben, bis sie
gelernt haben, die Türe in selbstloser Liebe zu suchen. Manche finden die Türe
früher als andere und gehen hindurch, jedoch nicht aufgrund besonderer Vorzüge
oder großer Verdienste, sondern einzig darum, weil sie eingelassen werden.
Erleuchtung geschieht ohne Leistung, menschlichem Verfügen und Erreichenwollen
gänzlich entzogen. Nur absolute Absichtslosigkeit kann Gefäß sein für das
Geschenk der Einheit und des Einheitserlebens.
Betrachtung und Meditation als Vorbereitung
Der innere
Raum des Geistes ist doch ein wunderbarer Ort. Hier ist Christus selbst
Pförtner und Tür zugleich. Als Gott ist er Pförtner, als Mensch ist er Tür.
Darum sagt er im Evangelium: „Ich bin die Tür (zu der Schafherde). Wer durch
mich eintritt, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide
finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu verderben.“
Im
Zusammenhang mit dem, was bisher über die Kontemplation gesagt wurde, ist Jesu
Wort etwa so zu verstehen:„Als Gott bin ich der allein entscheidende Pförtner. Ich
allein entscheide, wer und auf welche Weise einer eintreten darf. Doch wollte
ich einen ganz einfachen und leicht erkennbaren
Weg zur Schafherde anlegen, den jeder finden kann, der kommen will. Darum nahm
ich eine schlichte menschliche Natur an und war dadurch zugänglich, daß niemand
sein Fernbleiben entschuldigen kann, indem er sagt, er habe den Weg nicht
gekannt. Als Mensch bin ich die Tür, und wer durch mich eintritt, ist in
Sicherheit.“
Wer durch
die Tür eintreten will, beginne, das Leiden Jesu zu betrachten, und bereue die
Sünden, die Jesu Leiden verursachten. Er soll sich hart anklagen und tiefes
Mitgefühl für seinen Meister erwecken. Wer wegen seiner Sünde eigentlich leiden
müßte, bleibt verschont, während Er, der Unschuldige, so entsetzlich leiden
mußte. Dann soll er sein Herz zu ihm emporheben, um die Güte und Liebe dessen
zu empfangen, der freiwillig ein sterblicher Mensch wurde. Wer sich so
vorbereitet, tritt ein durch die Tür und ist in Sicherheit. Ob er nun
hineingeht und sich in die Liebe und Güte seiner Gottheit versenkt oder
hinausgeht, indem er Christus in seinem menschlichen Leiden betrachtet, er wird
geistliche Nahrung in Fülle finden. Käme er auch in diesem Leben nie weiter, er
hätte Frömmigkeit in reicher Fülle, ja mehr als genug, die Gesundheit seiner
Seele zu erhalten und zum Heile zu gelangen.
Doch manche
werden sich weigern, durch diese Tür einzutreten. Sie glauben auf anderen Wegen
die Vollendung zu erlangen. Sie versuchen, mit allen Finessen an dieser Tür
vorbeizukommen. Sie gestatten ihren unerzogenen Sinnen und ihrem zügellosen
Denken ausgefallene Ideen und seltsame Phantasien und weisen den allgemeinen
offenen Zugang sowie die verläßliche Führung eines geistlichen Vaters ab. Wer
das tut, mag sein wer immer, ist nicht nur ein Dieb bei Nacht, sondern auch ein
Tagedieb. Ein Dieb bei Nacht, weil er in der Dunkelheit der Sünde lebt. In
seinem Hochmut vertraut er seinem eigenen Verstand und seinen ausgefallenen
Ideen mehr als klugem Rat oder der Sicherheit dieses schlichten, leicht
erkennbaren Weges, den ich beschrieb. Er ist auch ein Tagedieb, denn unter
Vortäuschung eines geistlichen Lebens stiehlt er heimlich und maßt sich nach
außen den Stil eines Kontemplativen an, während sein inneres Leben keine
entsprechende Frucht bringt. Empfindet er gelegentlich ein leises Verlangen
nach Vereinigung mit Gott, läßt er sich dadurch täuschen und glaubt sich in
seinem Tun bestätigt. Er versteift sich noch mehr, lehnt jeglichen Rat ab und
geht den gefährlichsten Weg, den es gibt. Die Gefahr wächst noch mehr, wenn er
ehrgeizig hohen Zielen nachjagt, die für ihn unerreichbar sind und abseits des
normalen, deutlichen Weges des christlichen Lebens liegen.
Als ich
über Wert und Notwendigkeit der Betrachtung sprach, habe ich dir diesen Weg mit
Jesu Worten erklärt. Ich nannte die Meditation die Tür zur Frömmigkeit, und ich
versichere dir: Sie ist in diesem Leben der sicherste Zugang zur Kontemplation.
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