Eine Weihnachtsgeschichte
von Dora Schlatter 1855 - 1915
Es war  Weihnachtsabend des Jahres 1703. Der Vater Knesebeck, angesehener Ratskämmerer  der Stadt Rostock, saß am hellen Kamin in seinem roten, plüschenen Sessel. Sein  weißes Haupt ruhte an der hohen Rückenlehne. Zu seinen Seiten saßen seine  betagte Hausfrau und seine Tochter. Auf dem Tisch vor ihnen aber standen zwei  leuchtende Kerzen, und aufgeschlagen lag die heilige Schrift. alles war still.  Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn's hoch kommt, sind's achtzig Jahre  - beim Vater Knesebeck war's höher gekommen, denn 82 Jahre war die Zeit seiner  Pilgrimschaft. Und wenn jetzt draußen um die Türme der alten Stadt Rostock der  kalte Dezemberwind pfiff und die Wetterfahnen knarrten: er hörte nichts davon.  Seit zehn Jahren war er ganz taub geworden und hatte kein Weihnachtsevangelium  und kein Weihnachtslied gehört, sondern taub und stumm wie heute dagesessen. Und  seit zehn Jahren hatten die beiden zur seiner Seite geseufzt und auch gebetet,  ob's Gott gefallen möchte, dass der Vater wieder hören möchte Freude und Wonne,  dass seine Gebeine fröhlich würden. 
Jetzt ging's an die heilige  Weihnachtsfeier. Mit einem Wehmütigen blick zu dem Haupte des Vaters, der mit  gefalteten Händen dasaß, nahm die liebe Tochter die heilige Schrift, und hub an  Luk. 2: Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus  ausging, dass alle Welt geschätzt würde. - Und jedermann ging, dass er sich  schätzen ließe, ein jeglicher in seiner Stadt. Da machte sich auch Joseph aus  Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da  heißt Bethlehem - und so las sie die ganze heilige Festgeschichte. Nun fingen  die beiden, Mutter und Tochter, mit leiser Stimme an, ihr Weihnachtslied zu  singen, wie es im Hause herkömmlich: Gelobet seist du, Jesus Christ . . . 
Im  hohen Zimmer hallte es seltsam wider, wie die zwei anhuben. Aber sieh, es waren  nicht mehr zwei, es waren drei, die die zweite Strophe sangen - und der Dritte  war der alte Vater selbst, der mit zitternder Stimme einfiel: "Dass du Mensch  geboren bist!" Denn während der Vorlesung hatte des Herren Engel, der in der  heiligen Nacht zu den Hirten getreten und gerufen: Fürchtet euch nicht, siehe,  ich verkünde euch große Freude - es hatte der Engel des Herrn ihn berührt,  Jesus, der neugeborne König, hatte das Hephata über seinen betagten Knecht  gerufen. Er hörte und sang, und singend betete er an und lobte. Da feierten die  drei den heiligen Abend so froh, dass ihnen auch die hellen Freudentränen über  die Wangen rannen: und wohl mocht's schön ertönen, als sie sangen: "Das hat er  alles uns getan, sein' großes Lieb' zu zeigen an. Des freu' sich alle  Christenheit und dank ihm des in Ewigkeit!"
Wie mancher Weihnachtsabend seit  diesem über Vater Knesebecks Haupt in dieser Zeitlichkeit noch dahingegangen,  weiß ich nicht. Doch aber weiß ich, dass solcher Christgesang bei ihm geblieben  ist die übrige Zeit seiner Wallfahrt, und das glaube ich, dass, als er nun  seinen Herrn mit der Engel Schar in seinem himmlischen Thron selbst hat begrüßen  dürfen, er's auch noch gekonnt hat:
Gelobt seist du, Jesus Christ,
Das  du Mensch geworden bist,
Von einer Jungfrau, das ist wahr;
Des freuet sich  der Engel Schar: Halleluja! 
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