Das
Glaubensleben hat mit dem weltlichen Alltagsleben eines gemeinsam: Alles, was
man lernt, will umgesetzt werden, sonst macht alle Mühe keinen Sinn. Bibellesen
und Kirche besuchen – alles vergebene Mühe, wenn man das Gelesene oder Gehörte
nicht umsetzt. So ist es auch mit der Mystik, dem einzig wahren Glaubensweg.
Wie schon erwäht, hat ein Mystiker, dessen Name nicht bekannt ist, im 14.
Jahrhundert den folgenden Text geschrieben und gilt heute noch als die beste
und einfachste Basis zum Einstieg in die Mystik. Die Schrift „Die Wolke des
Nichtwissens“ mit dem „Brief persönlicher Führung“ stelle ich in 4 Teilen zur
Verfügung. Hier der 2. Teil:
Nimm einfach wahr, daß du bist
Du bist nun
so weit, daß dein Wachstum verlangt, den Verstand nicht länger mit Nachdenken
über die vielfältigen und vielfachen Ausfaltungen deines Wesens zu
beschäftigen. Früher verhalfen dir diese Übungen zur Erkenntnis Gottes. Sie
erfüllten dein Herz mit wohltuender, froher Zuneigung zu ihm und geistigen
Dingen und schenkten dir große geistliche Einsicht. Jetzt aber ist es an der
Zeit, dich zu bemühen, ständig in der innersten Mitte deiner Seele zu bleiben,
um Gott die dunkle Wahrnehmung deines Seins als Erstlingsfrucht anzubieten.
Tust du das mit Gottes Hilfe, wird sich Salomos Wort „Nähre die Armen mit
deiner Erstlingsfrucht“ erfüllen. Sein Wort wird sich erfüllen, ohne daß dein
Denken und Sinnen sich aufhält mit den vielfältigen Eigenschaften deines oder
Gottes Seins.
Ich möchte
dir eines klarmachen: Bei dieser Übung ist es ebenso nutzlos, dich mit der
Vielgestaltigkeit göttlichen Lebens zu beschäftigen wie mit deiner eigenen.
Kein Name, keine Erfahrung, keine Einsicht sind der Unendlichkeit Gottes so
nahe wie das, was du in der dunklen, liebenden Schau des Wortes „er ist“
besitzen, wahrnehmen und wirklich erfahren kannst. Beschreibe Gott, wie du
willst, als guten und gerechten Herrn, erbarmungsvoll, rechtschaffen, weise,
allwissend, stark, allmächtig oder als Allwissenheit, Weisheit, Macht, Stärke,
Liebe und Güte. Du wirst finden: All diese Bezeichnungen sind in dem kleinen
Wort „ist” verborgen enthalten. Gott in seinem reinen Sein ist jedes und allein
einem.
In hundert ähnlichen
Worten könntest du von Gott sprechen, ohne die Bedeutung des Wortes „ist“
größer machen zu können. Und hättest du keine dieser Bezeichnungen verwendet,
die Bedeutung des Wörtleins „ist“ hättest du nicht gemindert. Schließe darum
deine Augen in der liebenden Schau des Seins Gottes, wie du dies in der
bildlosen Schau deines eigenen Seins tust. Laß dein Sinnen und Denken vom
angestrengten Forschen im Vielerlei ausruhen. Laß all das, und ehre Gott nur
mit deinem Wesen: mit allem, was du bist und wie du bist. Vereine dein Sein mit
Gottes Wesen, denn er ist das strahlende Sein in sich selbst und in dir.
So bringst
du alles zusammen und wirst Gott mit sich selbst ehren, denn das, was du bist,
stammt von ihm, ist er selbst. Gewiß hast du einen Anfang - der Zeitpunkt, in
dem er dich aus dem Nichts rief -, doch dein Sein war und wird immer in ihm
sein von Ewigkeit zu Ewigkeit, weil er ohne Ende ist. Darum wiederhole ich nur
dies eine:
„Ehre
den Herrn mit deiner Habe.
Nähre mit deiner Erstlingsfrucht die Armen -
die ganze Menschheit -
dann füllen sich mit Korn deine Speicher.“
Darin liegt
eine Verheißung: Dein Herz wird mit überbordender Liebe und sich selbst
verströmender Güte erfüllt, die aus deinem Leben in Gott entspringen, welcher
der Grund deines Seins und die Ungeteiltheit deines Herzens ist. Es heißt
weiter:„Deine Fässer quellen über von Wein.“ Diese Fässer sind deine geistigen
Fähigkeiten. Früher hast du sie mit allen möglichen Betrachtungen und mit
Nachdenken angefüllt. Du wolltest von Gott und dir, von deiner Wirklichkeit und
der seinen etwas mehr verstehen. Jetzt sind sie voll Wein und fließen gar über.
Salomo
spricht von Wein und meint bildlich und mystisch die innere Einsicht, die
heranreift in tiefer Kontemplation und im Verkosten des verborgenen Gottes.
Dies
geschieht wie von selbst, leicht und ohne Mühe, kraft der Gnade. Deine
Anstrengung ist jetzt vorbei. Kraft dieser blinden, versunkenen, hingegebenen
Liebe werden Gottes Boten dir Einsicht geben. Wie eine Magd zum Dienst ihrer
Herrin sind diese Boten Gottes vor allem zu diesem Dienst bestimmt.
Das innere Wesen als Tor zu Gott
Kraft ihrer
Eigenart öffnet diese Übung den Menschen für die alles übersteigende Erkenntnis
des ewigen Gottes, der voll Liebe in die Tiefe der menschlichen Seele eintritt,
sie in geistigem Erkennen mit sich eint und verbindet. Voll Freude über dieses
Handeln Gottes sprach der weise Salomo:
„Glücklich
der Mann, der Weisheit gefunden,
der Mensch, der Einsicht erlangt!
Denn besser ist, sie zu erwerben als Silber,
und sie zu bekommen ist mehr wert als Gold.“
Sie ist die erste und edelste seiner Gaben.
„Mein Sohn, verliere sie nie aus den Augen,
bewahre Klugheit und Umsicht.
So werden sie deiner Seele zum Leben
und deinem Halse zum Schmuck.
Dann gehst du sicher deinen Weg
und stößt nicht an mit dem Fuß.
Setzt du dich nieder,
so brauchst du nicht bange sein,
und ruhst du,
so schläfst du erquickend.
Du mußt dich nicht fürchten vor plötzlichem Schrecknis,
vor dem Unwetter über die Frevler, das kommt.
Denn Jahwe wird deine Zuversicht sein;
er bewahrt deinen Fuß vor dem Fallstrick.“
Ich will
dir den tiefen Sinn dieses Spruches erklären. Wer die „Weisheit“ findet, die
ihn heil macht, ihn mit Gott verbindet, ist glücklich. Ja, glücklich ist der
Mann, der Gott das nackte Bewußtsein seines Seins darbringt. Dadurch erfüllt er
seine Seele mit der geistigen Erkenntnis der Liebe, die alle Einsicht eines
Genies oder eines Gelehrten weit übertrifft. Diese Weisheit ist besser als
Erwerb von Gold und Silber. Sie schenkt inneren Frieden in dieser schlichten,
lauteren Übung der Versunkenheit. „Gold und Silber“ bedeuten hier jedwede
Sinnes- und Verstandeserkenntnis. Unser Erkennen gewinnt dieses Gold und Silber
durch Beschäftigung mit den Dingen, die rangmäßig unter uns sind, die in uns
sind oder über uns, also durch Betrachtung der vielfältigen Eigenschaften
Gottes oder der Geschöpfe.
Doch nun
geht Salomo weiter und erklärt, warum diese innere Übung besser ist; er
behauptet ja, sie sei die „Erstlingsfrucht“ des Menschen. Und kein Wunder, wenn
du bedenkst, daß diese tiefe
geistliche
Weisheit, die in dieser Übung heranwächst, spontan und frei aus dem tiefsten
inneren Grund der Seele aufbricht. Es ist dies ein Erkennen dunkel und formlos,
weit entfernt von allen Gestalten des Denkens und der Vorstellung. Alle
Anstrengung der Sinne und des Verstandes erreichen nicht einmal annähernd
ähnliches. Was immer sie an Wissen gewinnen, mag es noch so großartig und
tiefschürfend sein, ist im Vergleich zu dieser Einsicht kaum mehr als reiner
Dunst. Dies Wissen ist so sehr von jener im inneren Licht aufgehenden Wahrheit
verschieden wie das bleiche Mondlicht einer Winternacht vom strahlenden
Sonnenglanz eines hellen Sommertags.
Salomo rät
seinem Sohn, sich an diese Weisung zu halten, weil damit alle Gebote und
Weisungen des Alten und Neuen Bundes in vollkommenster Weise erfüllt sind, ohne
sich um irgendein Einzelgebot zu bemühen. Diese innere Übung wird schlechthin
„das Gesetz“ genannt, weil sie alle Einzelgesetze und Anweisungen wie eine
Wurzel in sich vereint. Bei genauem Hinsehen wirst du entdecken, daß die Kraft
der Übung aus der von Gott geschenkten Liebe stammt, in der sie wurzelt und
gründet. Diese Liebe, sagt der Apostel, ist die Erfüllung des Gesetzes.108
Folgst du diesem Gesetz der Liebe und diesem lebenspendenden Rat, wird deine
Seele, wie Salomo sagt, leben. Im Innern findest du Frieden, weil du in der
Liebe Gottes ruhst. Nach außen wird die Schönheit deiner Liebe durch deine
ganze Person hindurchstrahlen. Mit unfehlbarer Sicherheit findest du kraft
dieser Liebe das richtige Verhalten im Umgang mit deinen Mitmenschen. An der
inneren Liebe zu Gott, an dem Ausströmen dieser Liebe auf die anderen hängt das
ganze Gesetz und die Propheten, wie die Heilige Schrift sagt. Wächst du durch
die Übung nach innen und nach außen in der Liebe, wirst du in der Gnade fest
verwurzelt deinen Weg gehen. Auf diesem geistigen Weg ist sie dein Führer. Voll
Liebe wirst du dein nacktes Sein dem strahlenden Sein Gottes hingeben. Gott und
du, von Natur aus verschieden, sind dann eins in der Gnade.
Die Frucht der Übung und ihre Gefährdung
Es heißt
weiter:„Er stößt nicht an mit dem Fuß.“ Das bedeutet: Mit der Zeit wird diese
innere Übung zu einer geistigen Fertigkeit. Dann kann die Neugier der Sinne und
des Verstandes dich nicht mehr so schnell verführen und vom Wege abbringen.
Anfangs war es schwer, sich ihnen zu entziehen. Mit anderen Worten: Der „Fuß
der Liebe“ wird jetzt nicht mehr über Vorstellungen und Gedanken stolpern, die
aus deiner unstillbaren Wißbegier aufsteigen.109 Wie ich dir schon sagte, wird
in dieser kontemplativen Übung alle Neugier aufgegeben und vergessen, damit
dein menschlicher Drang nach der Welt der Erscheinungen die dunkle Wahrnehmung
deines reinen Seins nicht hindert und dich von dieser edlen Tätigkeit abhält.
Jeder bestimmte Gedanke an ein Geschöpf, der dir in die einfache Wahrnehmung
deines nackten Seins kommt- des Seins, das ja Gott in dir ist und das zugleich
deine tiefe Sehnsucht nach ihm darstellt -, läßt dich in die Geschäftigkeit
neugierigen Denkens zurückfallen. Dann bist du nicht mehr ganz bei dir noch bei
deinem Gott. Dies führt zur Aufspaltung und zur Zersplitterung der tiefen
Sammlung auf dein Sein hin und auf das seine. Kraft der Gnade und des
Erkennens, das aus der beharrlichen Übung erwächst, bleibe, sooft du kannst, in
der Tiefe deines Seins gesammelt.
Ich sagte
dir schon: Diese Übung ist kein Hindernis für deine tägliche Arbeit. Du wirst
deiner täglichen Arbeit nachgehen und zugleich mit deiner ganzen Aufmerksamkeit
auf die dunkle Wahrnehmung deines Seins gerichtet sein, das mit Gottes Sein
vereint ist. Du wirst essen, trinken, schlafen, wachen, gehen, kommen,
sprechen, hören, liegen und aufstehen, wirst stehen, knien und laufen, reiten,
arbeiten und ruhen. In all deinem Tun wirst du Gott jeden Tag das Beste darbringen,
was du zu geben hast. Diese Übung wird die Mitte all deines Tuns, ob aktiv oder
kontemplativ.
Salomo
sagte ferner, daß du weder die Bedrohung noch die Hinterlist Satans zu
befürchten brauchst, wenn du in dieser bildlosen Versunkenheit ruhst, abseits
der lärmenden Geschäftigkeit des Bösen, der unerlösten Welt und der
menschlichen Schwäche. Trifft dich der Satan bei dieser Übung an, wird er
sicher völlig ratlos sein. Geblendet und gequält von Unwissenheit über das, was
du tust, wird er es in irrer Neugier herausfinden wollen.110 Kümmere dich nicht
darum. Du wirst schlafen in der Liebesvereinigung deines Geistes mit Gottes
Geist. Deinen Schlaf kann niemand stören. Er gibt dir tiefe geistige Kraft und
Nahrung, die Leib und Seele erneuern. Salomo versichert kurz darauf, daß dies
die völlige Heilung des Leiblichen bedeute. Damit will er sagen: Diese Kraft
heilt alle Gebrechen und Krankheiten des Leibes. Krankheit und Verwundung kamen
ja erst über den Menschen, als dieser sein Einssein mit Gott verlor. Wenn aber
nun mit Jesu Hilfe - er ist immer die entscheidende Kraft in der kontemplativen
Vereinigung - der Geist die Einheit wieder sucht, wird der Leib heil. Ich
erinnere dich noch einmal daran: Nur das Erbarmen Jesu und deine eigene
liebende Hingabe lassen dich hoffen, die Vereinigung zu erreichen. Ich vereine
meine Stimme mit der Salomos und muntere dich auf: Bleib bei dieser Übung.
Bringe Gott in freudiger Liebe ständig dein bereites Herz dar.
„Du mußt
dich nicht fürchten vor plötzlichem Schrecknis, vor dem Unwetter über die
Frevler, das kommt!“
Hier sagt
der weise Salomo: „Laß dir keine Angst einjagen, wenn Satan wild anstürmt (was
er gewiß tut) und an die Wände deines Hauses trommelt und hämmert, oder wenn er
seine starken Helfer hetzt, dich plötzlich zu überfallen.“ Wir sollten uns
darüber im klaren sein: Mit Satan muß gerechnet werden. Wer diese Übung beginnt
- wer er auch sei -, kann sicher sein, daß er überraschend Dinge fühlen,
riechen, schmecken oder hören wird, Wirkungen, die Satan in den Sinnen
auslöst.111 Sei nicht erstaunt, wenn dies eintrifft. Er wird nichts unversucht
lassen, dich von den Höhen einer solch wertvollen Übung herunterzuholen.112 Ich
sage dir: Halte dein Herz fest am Tag des Leidens, und vertraue voll
Gelassenheit auf die Liebe des Herrn. „Er steht dir zur Seite und bewahrt
deinen Fuß vor dem Fallstrick.“ Ja, er ist dir nahe und bereit, dir zu
helfen.113
„Er bewahrt
deinen Fuß vor dem Fallstrick.“ Hier meint Salomo mit Fuß die Liebe, kraft
derer du zu Gott emporsteigst. Er versichert, daß Gott dich beschützen wird,
damit deine Feinde dich nicht mit ihrer Hinterlist fangen. Deine Feinde sind:
Satan und seine Helfer, der eigene Egoismus und der der Welt.114 Schau, mein
Freund, unser mächtiger Herr, der die Liebe selbst ist und voll Weisheit und
Macht, beschützt und verteidigt dich selbst und steht all denen bei, die nicht
für sich selber sorgen und ihm völlig ihre Liebe und ihr Vertrauen schenken.
Klage über den zaudernden Menschen
Aber wo
findet sich einer, der sich ungeteilt hingibt, der tief im Glauben verwurzelt,
von Grund auf gütig und aufrichtig ist, der seine Selbstsucht vernichtet hat
und sich nur von der Liebe des Herrn stärken und führen läßt? Wo gibt es einen
solchen Menschen, der reich durch die überragende Erfahrung des Erkennens
Gottes, seiner unerforschlichen Weisheit und strahlenden Güte, ein Mensch, der
die Einheit der göttlichen Gegenwart in allen Dingen klar erkennt, sowie das
Einssein aller Dinge in ihm115 der bereit ist, sein Sein ungeteilt Gott
hinzugeben? Wo findet
sich ein
Mensch, der mit Gottes Gnade weiß, daß er ohne Auslieferung an ihn nie ehrlich
sein wird in seinem Bestreben, sein Selbst zu einem Nichts zu machen? Wo findet
sich ein so aufrichtiger Mensch, der es verdiente, diese mächtige Weisheit und
Güte Gottes zu erfahren, die ihn birgt und ihn vor inneren und äußeren Feinden
schützt kraft seines hohen Entschlusses, das Selbst aufzugeben, und seiner
großen Sehnsucht, daß Gott ein und alles sei in der Vollendung der Liebe? Ja,
natürlich: Ein solcher Mensch taucht ganz in die Liebe Gottes ein und in die
völlige und endgültige Hergabe seiner selbst als einem Nichts oder weniger als
ein Nichts, wenn weniger möglich wäre. Darum hat er Frieden und wird nicht
länger von ruheloser Geschäftigkeit umgetrieben. Ihn plagen nicht mehr die
Sorge und der Kampf um sein eigenes Wohl.
Aber, du
halbherziges Volk, behalte deine Zweifel für dich! Hier ist jemand so von der
Nähe Gottes berührt, daß er sich aufrichtig und ungeteilt einzig Gott überläßt.
Sage nicht, das hieße Gott versuchen. Dir fehlt nur der Mut, das gleiche zu
tun. Sei zufrieden mit deiner Berufung zum normalen tätigen Leben. Das ist der
Weg zum Heil für dich. Doch laß die anderen in Ruhe! Was sie tun, verstehst du
nicht. Halte dich also über ihre Worte und ihr Tun nicht auf, und nimm keinen
Anstoß daran!
Eigentlich
solltest du dich schämen. Wie lange mußt du noch von all dem hören und lesen,
bevor du es glaubst und annimmst? Zu allem füge ich noch hinzu, was unser Väter
sagten und schrieben. Entweder bist du so blind, daß das Licht des Glaubens dir
nicht helfen kann zu verstehen, was du liest, oder es vergiftet dich gar ein
geheimer Neid, daß du nicht begreifen kannst, daß ein solch großes Geschenk
zwar für deine Brüder, aber nicht für dich bestimmt ist. Sei klug und nimm dich
vor deinem Feind und seiner Falschheit in acht! Er möchte gern, daß du dich
mehr auf deinen Verstand verläßt als auf die Weisheit unserer Väter, die Kraft
der Gnade und die Führung Gottes. Hast du nicht schon oft in den ehrwürdigen
und zuverlässigen Schriften der Väter gelesen oder davon gehört, daß Rahel
starb, als Benjamin geboren wurde? „Benjamin“ meint aber das „Gebet der Ruhe“,
„Rahel“ dagegen das „Denken“. Wenn die Gnade edler Kontemplation einem Menschen
geschenkt wird, die sich zeigt in entschlossener Bereitschaft, sich völlig
hinzugeben, und im tiefen Verlangen, daß Gott alles in allem sei -, dann kann
man in gewissem Sinn sagen: Der „Verstand stirbt“. Hast du das nicht alles oft
in den Werken erfahrener und wissender Männer gelesen oder davon gehört? Warum
fällt es dir so schwer zu glauben? Doch wenn du es glaubst, wie kannst du es
dann zulassen, daß deine Wißbegier in den Worten und im Leben Benjamins
herumstöbert? Benjamin steht für alle, die über ihr Denken und Sinnen hinaus in
die Liebeseinheit mit Gott hineingerissen worden sind.116 Von ihnen sagt der
Prophet: „Da steht Benjamin, er ist klein und doch ihr Führer“ (Psalm 67,28).
Sei wachsam, ich warne dich, und mache es nicht wie jene Rabenmütter, die ihre
Neugeborenen ermorden. Gib acht, daß du nicht dein Schwert zückst gegen die
Macht, Weisheit und Absicht Gottes. Ich weiß, du willst zwar nur, was Gott
will; bist du jedoch nicht vorsichtig, kannst du alles durch deine blinde
Unerfahrenheit ungewollt zerstören.
Erfahrung von Geborgenheit und Kraft
Als in der
Urkirche Verfolgungen an der Tagesordnung waren, wurden Menschen jeden Alters
und Standes – ohne durch besondere religiöse Übungen vorbereitet zu sein -
derart unbegreiflich und plötzlich von Gottes Nähe berührt, daß sie, ohne lange
zu überlegen, bereit waren, als Blutzeugen zu sterben. Handwerker ließen ihre
Werkzeuge liegen, Schulkinder warfen ihre Bücher weg, so groß war ihre
Bereitschaft zum Martyrium. Heute lebt die Kirche zwar im Frieden, weshalb
sollte es aber so ferne liegen, daß Gott auch heute Menschen jeden Alters und
Standes beglückend und urplötzlich mit der Gnade kontemplativen Gebets
überfällt? Ist es ein Grund, stutzig zu werden, weil Gott dies will und
tatsächlich tut? Gott wird in seiner großen Güte - davon bin ich fest überzeugt
- an den Berufenen handeln, wie es ihm gefällt, damit am Ende seine Güte
offenbar wird zum Staunen der ganzen Welt. Jeder, der aus Liebe bereit ist,
sich selbst zu einem Nichts zu machen, und nur ein einziges Verlangen kennt,
daß Gott alles in allem sei, wird von seiner Güte gegen innere und äußere
Anfechtungen des Feindes geschützt. Für seine Verteidigung braucht er nicht
selbst zu sorgen. Mit einer seiner Güte entsprechenden Treue wird er jene
schützen, die, in der Übung der liebenden Hingabe versunken, alle Sorgen um
sich vergessen. Wen überrascht es, daß diese Menschen sich so ungemein sicher
fühlen, hat sie doch die Treue und Güte Gottes so furchtlos und stark in der
Liebe gemacht?
Wer es
nicht wagt, sich Gott auszuliefern, und andere kritisiert, die es tun, zeigt
nur seine innere Leere. Entweder hat Satan ihm das Vertrauen der Liebe zu Gott
gestohlen und dazu das Wohlwollen seinen Mitmenschen gegenüber, oder er wurzelt
nicht tief genug im Gutsein und in der Wirklichkeit Gottes, um wirklich ein
Kontemplativer zu sein. Habe keine Angst, dich Gott ganz zu übereignen und dich
dem Schlaf der blinden Schau des göttlichen Seins hinzugeben, fern vom Weltlärm
und den Anfällen Satans und deiner Schwachheit. Der Herr wird bei dir sein und
dir helfen. Erwacht über deine Schritte und bewahrt deinen Fuß vor dem
Fallstrick.
Nicht ohne
Grund vergleiche ich die Übung mit dem Schlaf. Im Schlaf stellen Sinne und
Denken ihre Tätigkeit ein. Der Leib ruht und erneuert seine Kräfte. Ähnlich ist
es beim geistigen Schlaf. Das ruhelose geistige Tun wie Denken und Vorstellen
ist völlig gebunden und das Bewußtseinleer.117 Glücklich dieser Mensch, denn
ohne Störung kann er liebend versunken in das Sein Gottes gleichsam tief
schlafen und ungestört ruhen.118 Indessen erneuert der innere Mensch wunderbar
seine Kräfte.
Siehst du
nun, warum ich dir rate, Sinne und Verstand zu fesseln, dich zu weigern, sie zu
gebrauchen, und statt dessen Gott die dunkle, nackte Wahrnehmung deines Seins
darzubringen? Achte darauf, daß dein Sein unbedeckt ist, unverhüllt von
irgendeiner Vorstellung darüber. Du könntest versucht sein, dir Gedanken zu
machen über Wert und Würde deines Seins oder endlose Betrachtungen anzustellen
über die vielfältigen Bereiche der menschlichen Natur und der Welt. Sobald du
das zuläßt, gibst du deinen Sinnen und deinem Denken frische Nahrung. Sie
werden kräftig und zerren dich in alle möglichen Zerstreuungen. Ich warne dich,
ehe es dir so ergeht. Deine Sammlung würde aufgelöst, Unruhe dich überfallen,
und du wärest bestürzt. Hüte dich also vor dieser Falle.
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